Freitag, 15. März 2013

60 Jahre Fernsehen als Ideologie

Der Text "Fernsehen als Ideologie" wurde 1953 im Heft 4 der Zeitschrift "Rundfunk und Fernsehen" publiziert. Entstanden ist er aus einer in den USA durchgeführten Pilotstudie. Ihre Ergebnisse wurden ein Jahr später in der amerikanischen Fachzeitschrift "The Quarterly of Film Radio and Television" unter dem Titel "How to Look at Television" veröffentlicht.

Die Fernsehkritik von Theodor W. Adorno wurde aus akademischen Kontexten weitgehend verdrängt. Kommt sie in der einen oder anderen Lehrveranstaltung vor, dann meist mit dem Verweis, dass sie größtenteils überholt sei. Ebenso wie Adornos Auseinandersetzung mit Jazz eine mit dem Jazz seiner Zeit war, ist auch die Fernsehen eine mit dem Fernsehen zu Lebzeiten von Adorno. Wer glaubt Adornos Kritik damit entsorgen zu können, irrt jedoch. In beiden Fällen.

Adornos zentrale These ist, dass die RezipientInnen, die über das Fernsehen transportierte Ideologie zwar nicht "direkt auf den Alltag übertragen", sie aber trotzdem zur Konformität angehalten werden. Den ZuschauerInnen wird nahegelegt "ihre Erfahrungen ähnlich starr und mechanisch einzurichten" (S. 522), wie der kulturindustrielle Schematismus es ihnen vorlebt.

Methodische Probleme

Für "Fernsehen als Ideologie" untersuchte Adorno vierunddreißig Fernsehspiele (heute würde man von TV-Serien bzw. Fernsehfilmen, so es sich um Einteiler handelt, sprechen) unterschiedlicher Genres und Qualität. Er gesteht ein, dass sein Sample nicht repräsentativ ist und geht davon aus, dass die in Beverly Hills zugänglichen Serienwaren qualitativ eher über als unter dem Durchschnitt liegen.

Adorno betont eingangs, dass eine ausschließliche Drehbuchanalyse nicht weitgehend genug ist. Dass er sich in "Fernsehen als Ideologie" trotzdem damit begnügt, liegt primär an der mangelnde Verfügbarkeit. In den 1950ern wurde Fernsehen weder systematisch archiviert, noch gab es einen vergleichsweise niedrigschwelligen globalen Zugriff auf populärer Formate. Ein methodisches Problem, das heute weitgehend verschwunden ist. Fast ist es umgekehrt: Die Drehbücher stehen kaum zur Verfügung, während das Endprodukt vergleichsweise leicht zu bekommen ist. Zumindest was zeitgenössische Produktionen großer Networks betrifft.

Das eingeschränkte Sample ist jedoch - und diese Einsicht ist wohl einer der Gründe, warum die Kritische Theorie bei Fernseh-, Theater- und FilmkritikerInnen derart verhasst ist – in Wirklichkeit gar kein Problem. Denn wie Adorno auch in diesem Zusammenhang darlegt, genügt eine einzige Serie, vielleicht sogar eine einzige Folge, um die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie produziert wurde, zu erhellen. Es besteht nicht "die Gefahr, daß man die herausgegriffenen Exempel allzusehr belastet, denn ein jedes ist pars pro toto und erlaubt nicht nur, sondern erzwingt den Rückschluss aufs System" (S. 530). Diese Grundfigur lässt sich beliebig weiterspinnen. So weit, dass sich die Grundmotive der Dialektik der Aufklärung, einem der Hauptwerke der Kritischen Theorie - wie kürzlich bei einer Veranstaltung in Wien - anhand eines halbleeren Glases Orangensaft in groben Zügen erklären lassen.

Nicht vielschichtig und dennoch uneindeutig

Adorno beschreibt eine Transformation der ästhetischen Vielschichtigkeit. Kein Kunstwerk kommuniziert seinen Gehalt von sich aus in eindeutiger Weise. Diese Vielschichtigkeit geht jedoch sowohl Film als auch Fernsehen ab und wird dennoch nicht durch informatorische Eindeutigkeit ersetzt:
"Vielmehr wird die Vielschichtigkeit, oder: ihre Verfallsform, von den Produzenten zu ihrem eigenen Besten umfunktioniert. Sie treten ihr Erbe an, indem sie mehrere psychologisch übereinander gelagerten Schichten im Zuschauer voraussetzen, die sie gleichzeitig zu durchdringen suchen im Sinn eines einheitlichen und nach den Begriffen der Lenker rationalen Ziels, der Verstärkung des Konformismus im Zuschauer und der Befestigung des status quo." (S. 520)
Ein wichtiger Abschnitt – gerade weil derartige Argumentationen KritikerInnen Adornos oftmals als Vorwand zur Entsorgung seiner Fernsehkritik dienen. Die Kritik an Adorno geht nicht selten in die Richtung, er würde die alte Kunst verherrlichen, alles neue ablehnen und de facto ein verkappter Kulturpessimist sein. Dabei wird übersehen, dass er lediglich Veränderungen im Produktionsprozess, die immer stärker werdende Tendenz zur Warenförmigkeit und das, was diese Tendenz mit den Gegenständen macht, zu fassen versucht. Es gilt genau hinzusehen, sowohl auf die verborgenen Botschaften in den kulturindustriellen Waren als auch auf deren Wirkung auf die RezipientIn. Das gilt für das heutige, technisch avancierte Fernsehen nicht weniger, als für die von Adorno untersuchten Fernsehspiele aus den 1950ern.

Mit welchen Fernsehspielen sich Adorno beschäftigt hat, verrät der Text nicht. Er zählt lediglich ideologische Grundmotive auf, nicht aber in welcher Produktion sie jeweils enthalten sind. Gerade das macht den Text so interessant. Denn die Serienwaren sind damals wie heute austauschbar, während viele ideologische Grundkonstanten gleich bleiben. Etwa wenn Adorno zur Funktion von Humor als Ersatz für soziale Kämpfe schreibt:
"Die Posse gibt dem Zuschauer zu verstehen: wenn du Humor hast, gutmütig bist, rasch-geistig und charmant, brauchst du dich nicht allzusehr über deinen Hungerlohn aufzuregen; du bleibst doch immer noch, was du bist." (S. 521)
Nur eines von vielen Beispielen für den sinnstiftenden Kitt, der den Ist-Zustand gegen Veränderung abdichtet. Schon 1953 und noch immer 2013.

Fernsehen und Geschlecht

Die Kategorie Geschlecht hat in "Fernsehen als Ideologie" einen wichtigen Stellenwert. Erzählkonventionen, wie die dem Tode geweihte Femme Fatal, die zu zähmende Widerspenstige oder das häufig bemühte Klischee des lebensunfähigen (männlichen) Künstlers/Intellektuellen, werden von Adorno präzise eingefangen. Eine seltsame Umkehrung beobachtet er in Bezug auf geschlechtsspezifische Zuschreibungen, insbesondere die aktiv/passiv-Dichotomie. So müssen sich männliche Figuren im fiktionalen Fernsehen auffällig oft gegen die sexuellen Annäherungsversuche von Frauen wehren.

In Bezug auf das Intellektuellen-Bild leistet der Text abermals bemerkenswertes, wenn man bedenkt, in welcher Zeit und in welchem gesellschaftspolitischen Klima er entstanden ist: Er benennt die Homophobie, die ein ideologischer Meta-Text antiintellektueller Darstellungskonventionen ist und die sich durch zweideutige Witze ihren Weg bahnt. Auch dieses Motiv lässt sich bis heute finden - nicht zuletzt in Sitcoms.

Realität und Realismus

Die Einschätzung, wonach nichts "verlogener [klingt], als wenn das Fernsehen posiert, Menschen so reden zu lassen, wie sie reden" traf wohl selten so sehr zu, wie in der Zeit der Scriptet Reality Formate und vielen ähnlichen Authentizität versprechenden Fernsehwaren. Zugleich kritisiert Adorno die durch das fiktionale Fernsehen propagierte Ideologie des Realistisch-Sein-Müssens, die in verschiedener Gestalt zu Tage tritt und den Status Quo einzementieren soll. In diesem Zusammenhang geht die Herabwürdigung von praxisferner Intellektualität und die verzerrte Darstellung erfolgreicher sozialer Kämpfe als Leistung einzelner moralisch guter Männer Hand in Hand.

Kritik formuliert Adorno an der Personalisierung der Politik, die das Fernsehen betreibt, wobei er besonderes Augenmerk auf die Konfliktkonstellation Totalitäres System vs. Revolutionäre Bewegung legt. Auffällig findet er, dass zumeist nichts von der objektiven Dynamik der jeweils dargestellten Diktaturen ins Blickfeld tritt. Die Diktaturen werden als entpolitisiert, auswechselbar und primär als Folge der "Charakterdefekte ehrgeiziger Politiker" (S. 523) dargestellt. Dass Adorno das Medium Fernsehen nicht grundsätzlich verurteilt - wie viele seiner KritikerInnen es ihm bis heute unterstellen - wird nicht zuletzt daran deutlich, dass er an mehreren Stellen etwas für einen Vertreter der Kritischen Theorie vergleichsweise untypisches tut. Er macht konstruktive Vorschläge. Hier etwa zur Frage der Darstellbarkeit politischer Kämpfe gegen totalitäre Systeme, die sich für Adorno gleichermaßen für das Theater und das fiktionale Fernsehen stellt:
"Wohl kann Politik auf dem Theater nur an Menschen behandelt werden. Dann müßte man aber darstellen, was totalitäre Systeme denen antun, die unter ihnen leben, anstatt daß man die Kitschpsychologie prominenter Helden und Bösewichter vor Augen stellt, vor deren Macht und Größe der Zuschauer Respekt haben soll, selbst wenn sie zum Lohn für ihre Taten untergehen." (S. 523)
Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse

In Verbindung mit einem anderen Fernsehspiel beobachtet Adorno, dass das vermeintlich Naturhafte, der Entwicklung der Figuren im Verlauf der Handlung ständig eingeschrieben ist. Am Ende sind sie das, was sie wirklich sind. Die Veränderungen, die sie durchmachen sind Pseudoveränderungen, die lediglich das zu Tage fördern, was "als ihre 'Natur', ohnehin in ihnen steckt" (S. 527). Die psychischen Merkmale sind von Anfang an gegeben - sie verändern sich nicht, sondern werden maximal im Verlauf der Handlung enthüllt.

Die DrehbuchautorInnen der von Adorno untersuchten Fernsehspiele betreiben umgekehrte Psychoanalyse. Abwehrmechanismen werden verherrlicht, Prozesse nicht durchleuchtet und Autonomie und Individualität verleumdet: "Man soll sich 'ergeben', und zwar weniger der Liebe als dem Respekt für das, was die Gesellschaft nach ihren Spielregeln erwartet." (S. 528)

Fernsehkritik heute

Wie bereits erwähnt, drängen sich an mehreren Stellen Vergleiche mit zeitgenössischer TV-Produktion auf. Etwa wenn Adorno feststellt, dass Serien zunehmend mit dem Bewusstsein, Kitsch zu sein (heute würde man sagen: Trash zu sein), spielen. Den unnaiveren BetrachterInnen wird heute öfter denn je zugezwinkert. Sie werden von der Kulturindustrie ins Vertrauen gezogen, ihrer intellektuellen Eitelkeit wird geschmeichelt. Oder, um es mit einer Textzeile aus der von Charlie Brooker und Chris Morris geschriebenen Satire Nathan Barley (Channel 4) zu sagen: "Stupid people think it's cool, smart people think it's a joke - also cool." Eine Schandtat, so Adorno, "wird dadurch nicht besser, daß sie sich als solche deklariert" (S. 530), sei es durch ein wissendes Augenzwinkern oder eine Kritikabwehr, die dem heutzutage allzu beliebten "Ihr checkt die Ironie nicht"-Muster folgt.

Der Text schließt mit einer Reflexion darauf, was angesichts der herrschenden Zustände Aufgabe von Fernsehkritik sein könnte. Adorno warnt davor, sich von "jener versierten Forderung nach dem Positiven terrorisieren [zu] lassen, die doch meist nur die Veränderung des Zustands hintertreiben will" (S. 531) und empfiehlt stattdessen, sich mir dem ideologischen Charakter des Fernsehens zu beschäftigen, der für ihn zwei Seiten hat: Den der Produktion und den der Rezeption.

Öffentlich-rechtliches Fernsehen, Freiwillige Selbstkontrolle und die FernsehmacherInnen

Hoffnung setzt Adorno in öffentlich-rechtliche Fernsehproduktion, weil die Abhängigkeit von wirtschaftlichen Interessen in diesem Sektor wenigstens teilweise gemindert ist. Zugleich betont er die Wichtigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit Fernsehen in der Öffentlichkeit, die er als "Impfung des Publikums gegen die vom Fernsehen verbreitete Ideologie" (S. 531) beschreibt.

Kritik formuliert Adorno an Stiftungen wie der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK). Er kritisiert, dass die MitarbeiterInnen derartiger Institutionen nach "Kraftworten und Anstößigkeit [...] fahnden" (S. 531), während sich kaum jemand darum bemüht, die Reproduktion von Stereotypen und die vielfältige ideologische Umnebelung des Publikums zu hinterfragen.

Den FernsehmacherInnen selbst bringt Adorno am Ende des Textes erstaunlich große Empathie entgegen. Anderes, besseres, weniger ideologisches Fernsehen, sei nicht utopisch, weil Fernsehen als Ideologie weder auf den bösen Willen noch auf die Inkompetenz der FernsehmacherInnen zurückzuführen sei. Die Mechanismen einer kapitalistischen, auf vielfältigen Formen von Herrschaft beruhenden Gesellschaft, sind trotz besserer Absichten der in ihr agierenden Individuen, wirksam. Adorno meint, einen Widerwillen der Einzelnen zu erkennen, der um so größer sei, "je näher man den Schriftstellern, Regisseuren, Schauspielern kommt" (S. 531). Die Aufgabe emanzipatorischer Fernsehkritik sieht er deshalb nicht zuletzt darin, "den gegängelten Künstlern" (S. 532) gegenüber ihren ChefInnen und KontrolleurInnen den Rücken zu stärken. Das Ziel ist dabei nicht, FernsehmacherInnen vorzuschreiben, was sie zu tun haben. "Wie allerorten aber", so der letzte Satz des Textes, "wäre der Kanon des Negativen nicht weit vom Positiven". Ein Schlüssel zum Verständnis nicht nur Adornos Fernsehkritik, sondern ein Grundmotiv, dass sich durch nahezu alle seine Texte zieht.

Theodor W. Adorno, "Fernsehen als Ideologie", in: Kulturkritik und Gesellschaft II, Hg. Rolf Tiedemann, Mitw. Gretel Adorno/Susan Buck-Morss/Klaus Schultz, Suhrkamp: Frankfurt 2003, S. 518-532.

Siehe auch:
Der Trug des verdoppelten Lebens – Theodor W. Adornos "Prolog zum Fernsehen"


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