Montag, 16. Mai 2016

Song Contest, Stalin, Ukraine 1944

Das ukrainische Siegerlied beim diesjährigen Eurovision Song Contest praktiziert die politische Instrumentalisierung menschlichen Leids auf popkultureller Ebene. Die besungenen KrimtatarInnen werden einseitig als Opfer stalinistischer Umsiedlung porträtiert. Die Kollaboration mit den Nazis, die der Vertreibung voranging, tritt in den Hintergrund.

Nachdem die Rote Arme die Krim 1944 von der nationalsozialistischen Besatzung befreite, veranlasste Josef Stalin die systematische Vertreibung der KrimtatarInnen. Etwa 189.000 Menschen wurden innerhalb weniger Tage in den Osten der Sowjetunion zwangsumgesiedelt. Durch Verdursten, Verhungern und Krankheiten kam es zu vielen Todesfällen - die Schätzungen diesbezüglich gehen weit auseinander.

Geschichte aus dem Standpunkt der Gegenwart

Zuvor begrüßten 1941 viele KrimtatarInnen den Einmarsch der Nazis. Binnen weniger Monate meldeten sich rund 2000 von ihnen freiwillig zur Wehrmacht. Hintergrund der Vertreibung war sowohl die aktive NS-Kollaboration eines Teils der lokalen Bevölkerung als auch die sich gegen ethnische Minderheiten in militärtaktisch bedeutenden Grenzregionen der Sowjetunion richtende stalinistische Politik.

Walter Benjamin kritisierte die Geschichtswissenschaft dafür, die Konstellation, in die die "eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist", auszublenden. "1944", das von Jamala gesungene Siegerlied des Eurovision Song Contest 2016, erzählt Geschichte aus dem Standpunkt der Gegenwart im schlechtesten Sinn. Die stalinistische Vertreibung 1944 wird für die ukrainische Außenpolitik im Konflikt mit Russland dienstbar gemacht - man könnte auch sagen: missbraucht. Die Wortwahl des Songtextes ("When strangers are coming, they come to your house, they kill you all") erinnert dabei stärker an die nationalsozialistische Vernichtungspolitik, als an die tatsächliche Vertreibung der KrimtatarInnen. Den Bezug zur industriell organisierten Massenvernichtung der Juden und Jüdinnen stellte auch Jamala selbst während einer Pressekonferenz her. Sie erzählt, dass die Musik zu "1944" von der Filmmusik von Schindlers Liste inspiriert sei und hofft, dass es ihrem Lied gelungen ist, die gleiche Kraft wie der Soundtrack des Steven Spielberg Films zu entfalten.

Ukraine 2016, Armenien 2015

Ein Jahr zuvor schickte Armenien einen sehr politischen Beitrag zum Song Contest. Nachkommen der armenischen Diaspora, die sich unter dem Namen Genealogy zusammengeschlossen hatten, sangen das Lied "Face the Shadow", das den Genozid an den ArmenierInnen thematisierte. Ursprünglich trug der Song den Titel "Don't Deny", der wie der gleichlautende Refrain des Songs die bis heute andauernde Leugnung des Genozids anprangerte. Der European Broadcasting Union (EBU) war das zu politisch, weshalb der Songtitel kurzfristig geändert werden musste. Der armenische Beitrag schaffte es zwar ins Finale, landete dort aber weit abgeschlagen auf dem 16. Platz.

"Obwohl im Reglement des ESC ein striktes Verbot politischer Botschaften festgeschrieben ist, handelt es sich um eine eminent politische Veranstaltung", schreiben die HerausgeberInnen des im vergangenen Jahr erschienenen Sammelbandes Eurovision Song Contest. Eine kleine Geschichte zwischen Körper, Geschlecht und Nation im Vorwort des Buches. Welche Narrative des Vergangenen in Europa mehrheitsfähig und damit wirkungsmächtig sind, lässt sich auch an Erfolg und Misserfolg von Song Contest Beiträgen ablesen. Nicht zuletzt wenn man das Abschneiden diesjährigen ukrainischen mit dem des armenischen aus dem letzten Jahr vergleicht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen